Gastkommentar von H. Dieter Zeh im Spektrum der Wissenschaft vom April 2001, Seite 72,

zum Artikel von M. Tegmark und J.A. Wheeler über "100 Jahre Quantentheorie":

    Ist das Problem des quantenmechanischen Meßprozesses nun endlich gelöst?


Diese Frage kann man ganz sicher nicht einfach mit "ja" beantworten. Die Ansicht von Niels Bohr, der Quantenmeßprozeß sei grundsätzlich nicht physikalisch analysierbar, darf aber heute wohl als widerlegt gelten.

Dekohärenz ist eine zwingende Konsequenz der Schrödingergleichung unter realistischer Berücksichtigung der natürlichen Umgebung eines Systems -- unabhängig von Interpretationsfragen. Sie beruht auf einer universellen "Verschränkung" praktisch aller physikalischen Systeme, die lange Zeit einfach übersehen worden ist. Der Dekohärenzprozeß ist inzwischen auch experimentell -- zuerst durch Haroche (Paris) -- direkt nachgewiesen worden. Zur theoretischen Untersuchung dieses Phänomens haben neben Wojciech Zurek (Los Alamos) vor allem Erich Joos (früher Heidelberg) und Claus Kiefer (Freiburg) beigetragen. Max Tegmark, Koautor des vorliegenden Artikels, ist vornehmlich durch seine Anwendung der Dekohärenz auf Gehirnprozesse bekannt geworden; damit hat er den spekulativen Vorschlägen von Roger Penrose und Stuart Hameroff, wonach menschliches Denken auf kohärenten Quantenprozessen beruhe oder gar einen durch Gravitation induzierten "Kollaps der Wellenfunktion" einschließe, den Boden entzogen. Tegmarks Arbeit beschreibt somit das "letzte Stück" des von Einstein im Gespräch mit Heisenberg geforderten "ganzen langen Wegs vom Vorgang bis zur Fixierung in unserem Bewußtsein" in rein quantenmechanischen Begriffen.
Diese Erfolge erlauben es nach meiner Überzeugung, nunmehr auf unabhängig vorzugebende klassische Begriffe und auf Verlegenheitsvokabeln wie Komplementarität, Dualismus oder Quantenlogik ganz zu verzichten. All die "erstaunlichen" Experimente der letzten Jahrzehnte haben nur Konsequenzen der nichtlokalen Wellenfunktion bestätigt, wobei alle Meßergebnisse durch Dekohärenz klassisch fixiert werden. Scheinbare "Quantensprünge" sind demnach ebenso das Ergebnis von sehr schnellen aber stetigen Dekohärenzvorgängen wie die Lokalisierung von Quantenobjekten als scheinbare "Teilchen" -- sei es als Spuren in der Nebelkammer oder als Klicks in Zählern.
Andererseits dürfte aber die von Everett gezogene Konsequenz von "Mehrfachwelten" von den meisten Physikern weiterhin abgelehnt werden -- vorwiegend aus emotionalen Gründen. Diese pragmatische Haltung ist aber auch im Rahmen einer universell gültigen Schrödingergleichung durchaus möglich, wenn man den Begriff der Realität "operationell" versteht: Als real gilt jeweils nur das, was für die in jedem "Everett-Zweig" separat existierenden Beobachter noch beobachtbar ist. Die Everettsche Quantenwelt definiert hingegen eine "hypothetische Realität",  die der quantenphysikalischen Konsistenz zuliebe verlangt werden muß. Demzufolge kann man nicht erwarten, jemals einen Kollaps der Wellenfunktion zu beobachten, der nicht als rein quantenmechanischer Dekohärenzprozeß erklärbar wäre. Der Kollaps auf ein bestimmtes Ergebnis beschreibt dagegen die sich stetig verändernde Situation der Beobachter in der Quantenwelt.
Der "große Nebel aus dem Norden", wie man die Kopenhagener Deutung gelegentlich genannt hat, beginnt sich zu lichten. Die sichtbar werdende Landschaft zeigt eine unsere gewohnte Vorstellungswelt weit übersteigende Vielfalt, ergibt dafür aber erstmals ein konsistentes Bild.