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Bellsche Ungleichungen 1: Kontextualität

Einführung

"Existiert der Mond auch dann, wenn gerade keiner hinsieht?"

...klingt nach einer küchenphilosophischen Frage, die spätabends nach zu viel Rotwein in der Studi-WG diskutiert wird. Einen besonders hohen Erkenntnisgewinn würde man von so einer Diskussion nicht erwarten.

Weit gefehlt!

Heute weiß man, dass aus natürlichen Hypothesen, wie z.B.

(R) "Physikalische Eigenschaften existieren unabhängig von Beobachtungen"

experimentell überprüfbare Konsequenzen folgen.

Es ist also nicht nur der Fall, dass man diese Studi-WG-Fragen präzise machen kann -- sie sind sogar physikalisch und nicht nur philosophisch!

Mehr noch, wenn man entsprechende Experimente durchführt, findet man, dass die Ergebnisse mit dem klassischen Weltbild einer objektiven, von Beobachtungen unabhängigen Welt nicht verträglich sind!

Der Hammer, oder?

Ein erstes Gedankenexperiment

Um uns an die Struktur der Argumente zu gewöhnen, betrachten wir zunächst ein einfaches Gedankenexperiment. Danach werden wir die Theorie systematischer aufrollen.

Der Monolith (eine, streng genommen, überflüssige Hintergrundgeschichte)

No description has been provided for this image

Auf einem unbewohnten Himmelskörper wurde ein mysteriöses Artefakt gefunden. Ein schwarzer Monolith. Sie werden entsandt, um seine Eigenschaften zu erforschen.


No description has been provided for this image Auf der Rückseite entdecken Sie drei runde Fenster, angeordnet in einem gleichschenkligen Dreieck. Alle zehn Sekunden leuchten in den Fenstern gleichzeitig je ein schwaches rotes Licht auf.

No description has been provided for this image Um das Licht zu verstärken, holen sie ihr altes Nachtsichtgerät aus der Landefähre. Zufällig passt der Abstand der Objektive genau zu den Abstand zwischen den Fenstern. Damit können sie also jeweils zwei Fenster auf einmal beobachten. Sie sehen nun, dass die Lichter Zeichen formen: "+" oder "-".

Den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis folgend, halten sie ihre Beobachtungen in einem Laborbuch fest. Vor jedem Ereignis wählen sie zufällig zwei der drei Fenster aus, betrachten Sie durch das Nachtsichtgerät, und schreiben die Vorzeichen in ihr Laborbuch. Ihnen fällt auf, dass Sie jeweils in einem der Fenster ein "+" und in einem der Fenster ein "-" sehen -- nie jedoch zwei gleiche Vorzeichen.

Sie haben Zeit für 10000 Beobachtungen. Dann wird der Sauerstoff knapp, und sie machen Sich auf die Reise zurück zur Erde.

Das Laborbuch

Ereignis # $V_1$ $V_2$ $V_3$
1 + -
2 - +
3 + -
4 - +
$\vdots$ $\vdots$ $\vdots$ $\vdots$
Jedem der drei Fenster entspricht eine Spalte. Für jedes Ereignis wurden zufällig zwei Fenster zur Beobachtung ausgewählt, das beobachtete Vorzeichen wurde in der entsprechenden Spalte vermerkt. Man beachte, dass für jedes Ereignis eine Spalte unbeobachtet bleibt.

"Wie merkwürdig", denken Sie, "eine makelloser Monolith auf einem sterilen Himmelskörper..." ...erst kurz vor Wiedereintritt in die Erdatmosphäre trifft es Sie wie Schlag! Die Existenz eines perfekten geometrischen Körpers widerspricht zwar unserem Wissen über die Natur, die Daten in ihrem Laborbuch jedoch, fordern die Gesetze der Logik selbst heraus!!!

[Na, wo ist das Problem?]

Das Problem

Wir geben nun für dieses Beispiel eine präzise Version der Hypothese (R) an.

(R') Schon bevor wir uns für eine Beobachtung entscheiden, steht fest, welches Fenster welches Vorzeichen zeigen wird.

Wir können uns also vorstellen, dass das Laborbuch so entstanden ist: Zunächst existiert eine vollständige Liste, die jedem Durchgang und jedem Fenster einen Wert zuschreibt. Dann entscheiden wir uns zufällig dafür, zwei der drei Einträge pro Zeile zu beobachten.

Ereignis # $V_1$ $V_2$ $V_3$
1 + - +
2 + - +
3 - + -
4 - + +
$\vdots$ $\vdots$ $\vdots$ $\vdots$

Jetzt kommt die zentrale Einsicht: Da wir zwei Vorzeichen auf drei Spalten verteilen, kommt notwendigerweise eines der VZ doppelt vor. Dann aber ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei zufällig ausgewählte Spalten das gleiche VZ haben mindestens $1/3$. Diese einfache, logische Konsequenz von (R') steht im eklatanten Widerspruch zu den empirischen Beobachtungen, die in tausenden von Wiederholungen niemals zwei gleiche Vorzeichen gesehen haben.

Damit ist die Hypothese (R') widerlegt. Welche Prozesse auch immer das Verhalten des Monoliths bestimmen -- sie sind nicht unabhängig von unseren Beobachtungen.

Denken Sie ein wenig über dieses Argument nach! Wir werden es im Weiteren noch etwas verfeinern -- aber die zentrale Einsicht, dass einfache Statistik das Verhalten von nicht gemessenen Größen einschränken kann -- ist bereits jetzt klar zu sehen.

Nichtlokalität

Wie überraschend wäre ein solches Verhalten?

Es würde bedeuten, dass der Monolith "auf unsere Entsdcheidungen eingeht". Gespenstisch. ...aber auch nicht undenkbar.

Man könnte ein Gerät mit solch einem Verhalten leicht bauen (vielleicht als Kulisse für eine Fernseh-Show). Dazu würde man z.B. eine Kamera benutzen, die wahrnimmt welche beiden Fenster beobachtet werden. Ein Computer würde dann je ein "+" und ein "-" auf die beobachteten Fenster verteilen.

No description has been provided for this image Wir können aber noch eines draufsetzen.

Stellen Sie sich vor, die drei Fenster wären jeweils tausende von Kilometern voneinander entfernt. Wir schicken drei Personen mit synchronisierten Uhren und Nachtsichtgeräten zu den Fenstern. Bevor sie sich trennen, vereinbaren sie, wer zu welcher Zeit sein Fenster beobachten wird. Sie tun das so, dass wieder jeweils nur zwei Messungen gleichzeitig durchgeführt werden.

Ihre Vereinbarung halten sie strengstens geheim, und platzieren Ihre Nachtsichtgeräte nur eine Millisekunde vor der Messung an den Fenstern. Wir nehmen an, dass selbst ein Signal das sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, innerhalb der Milisekunde die Strecke zwischen zwei Fenstern nicht zurücklegen kann.

Nach 10000 Messungen treffen sie sich... ...und stellen wieder fest, dass immer ein "+" und ein "-" beobachtet wurde.

Nun scheint es unmöglich, sich einen Mechanismus zu überlegen, der das Verhalten reproduziert: Aufgrund der Entfernung scheint es, dass die VZ unabhängig voneinander gewählt werden müssen. Aber für unabhängige VZ greift der Unmöglichkeitsbeweis.

Um unserer Vernunft willen kann man nur hoffen, dass ein solches Verhalten nie beobachtet wird!

Aber sie Sie ahnen es schon: Experimenten, die ein solches "nicht-lokales" Verhalten zeigen, sind seit den 1980er Jahren vielfach demonstriert worden. Die Details, und welche Schlüsse man daraus ziehen kann, besprechen wir später.

Anmerkungen

Weitere Anmerkungen dazu (können fürs erste auch übersprungen werden).

Terminologie

In der Fachliteratur werden folgende Begriffe verwendent:

Eine Auswahl von gleichzeitig zu beobachtenden Größen nennt man einen Kontext. Wenn Messdaten mit der Hypothese (R') verträglich sind, dann sagt man, sie folgen einem kontextfreien verborgenen Variablen-Modell (Engl. non-contextual hidden variable model).

(Der Begriff "verborgene Variable" für eine nicht gemessene Größen erklärt sich von selbst. Der Ausdruck "kontextfrei" kommt daher, dass unter der Annahme (R') der Wert z.B. des ersten Vorzeichens nicht davon abhängt, ob es zusammen mit dem zweiten oder mit dem dritten gemessen wird -- der Wert hängt als nicht vom Messkontext ab.)

Wir haben also gezeigt, dass die Daten in unserem Gedankenexperiment keinem kontextfreien Modell folgen.

Die klassische Mechanik ist hingegen eine kontextfreie Theorie: Die Schwerpunktskoordinate der Erde hängt nicht davon ab, ob man gleichzeitig auch den Mars oder die Venus im Blick hat.

Die Vorhersagen der Quantenmechanik sind nicht mit einem kontextfreien verborgenen Variablen-Modell kompatibel. Das ist die Aussage des Kochen-Specker-Theorems. Wir werde bald Beispiele dafür sehen.

Wichtiger ist, dass tatsächlich durchgeführte Experimente implizieren, dass unser Universum nicht durch eine kontextfreie Theorie beschrieben werden kann! Auch dazu später mehr.

Kontextualitätsungleichungen

Hier entwickeln wir eine mathematischere Formulierung des Arguments, die man leichter verallgemeinern kann.

Wir nehmen für das Argument die Gültigkeit von (R') an. Dann können wir das Vorzeichen $V_i^{(j)}$ definieren, das das $i$-te Fenster im $j$-ten Durchgang annimmt. Das Produkt $V_{i_1}^{(j)} V_{i_2}^{(j)}$ zweier Vorzeichen nennt man ihre Korrelation. Es nimmt die Werte $+1$ (bei Gleichheit) oder $-1$ (bei unterschiedlichen Faktoren) an. Unser Argument impliziert also, dass in jedem Durchgang $j$ die Ungleichung \begin{align*} V_1^{(j)} V_2^{(j)} + V_2^{(j)} V_3^{(j)} + V_3^{(j)} V_1^{(j)} \geq -1 \end{align*} erfüllt ist. Das gilt dann natürlich auch für den Durchschnitt: \begin{align*} & \frac1N \sum_{j=1}^N \big( V_1^{(j)} V_2^{(j)} + V_2^{(j)} V_3^{(j)} + V_3^{(j)} V_1^{(j)} \big) \\ =& \frac1N \sum_{j=1}^N V_1^{(j)} V_2^{(j)} + \frac1N \sum_{j=1}^N V_2^{(j)} V_3^{(j)} + \frac1N \sum_{j=1}^N V_3^{(j)} V_1^{(j)} \\ \geq& -1. \end{align*} Für den Grenzwert unendlich viele Wiederholungen führt man die folgende Notation ein: \begin{align}\tag{E} \lim_{N\to\infty} \frac1N \sum_{j=1}^N V_{i_1}^{(j)} V_{i_2}^{(j)} = \mathbb{E}[ V_{i_1} V_{i_2} ]. \end{align} In der Wahrscheinlichkeitstheorie nennt man $\mathbb{E}$ den Erwartungswert (Engl. expected value, daher das "E") und $V_{i_1} V_{i_2}$ die Zufallsvariable (Engl. random variable), die den Wert von $V_{i_1}^{(j)} V_{i_2}^{(j)}$ für einen zufällig ausgewählten Durchgang $j$ repräsentiert. (Wenn Sie mit dieser Theorie noch nicht vertraut sind, lesen Sie (E) einfach als Definition von $\mathbb{E}$). Für jede kontextfreie verborgene Variablen-Theorie gilt also die Ungleichung: \begin{align}\tag{K} \mathbb{E}[ V_{1} V_{2} ] + \mathbb{E}[ V_{2} V_{3} ] + \mathbb{E}[ V_{3} V_{1} ] \geq -1. \end{align} Man nennt (K) eine Kontextualitätsungleichung.

In unserem Gedankenexperiment sind je zwei Vorzeichen immer unterschiedlich -- das bedeutet $\mathbb{E}[ V_{i_1} V_{i_2} ] = -1$ und die Summe auf der linken Seite ergibt $-3$, was die Ungleichung offenbar verletzt. Man sagt, dass (K) die Kontextualität des Gedankenexperiments nachweist.

Eine Verallgemeinerung

Es gibt viele Kontextualitätsungleichungen.

Eine wichtige Verallgemeinerung von (K) gilt für den Fall, dass man $n$ Vorzeichen $V_1, \dots, V_n$ unter der Annahme betrachtet, dass man jeweils nächste Nachbarn $V_{i}, V_{i+1}$ gleichzeitig beobachten kann. Dabei geht man von einer zyklischen Anordnung aus und setzt daher $V_{n+1}=V_1$.

Für ungerade $n$ gilt dann die allgemeinere Kontextualitätsungleichung \begin{align}\tag{Kn} \sum_{i=1}^n \mathbb{E}[ V_i V_{i+1} ] \geq -n+2. \end{align} Sie ist wichtig, da 2007 entdeckt wurde, dass die Quantenmechanik (Kn) für $n=5$ verletzt.

No description has been provided for this image (Das quantenmechanische Modell nutzt fünf Vektoren, die in einem dreidimensionalen Hilbertraum in der Form eines Pentagrams angeordnet sind. Nach den Initialen der Entdeckern ist die Konstruktion daher als das KCBS-Pentagram bekannt geworden. Eventuelle unchristliche Assoziationen liegen ausschließlich im Auge des Betrachters...).

Mittlerweie gibt es Experimentaldaten, die durch Verletzung von (K5) nachweisen, dass unsere Wirklichkeit kontextuell ist. (Das ist ganz nett und so - aber wir werden noch überzeugenderere Experimente kennenlernen).

Beweis von (Kn): Für jeden Durchgang $j$ gilt \begin{align*} \prod_{i=1}^n V_i^{(j)} V_{i+1}^{(j)} = \prod_{i=1}^n \left(V_i^{(j)}\right)^2 =1, \end{align*} die Anzahl der antikorrelierten Paare ist also gerade. Summiert man über alle $n$ Korrelationen, treten daher maximal $n-1$ negative Vorzeichen auf, mindestens eines ist positiv. QED.

Zur Rolle der Quantenmechanik

Um festzustellen, dass die Hypothese (R') in diesem Universum keine Gültigkeit hat, reicht es aus, eine Verletzung einer Kontextualitätsungleichung in Experimentaldaten zu finden. Insbesondere muss man dafür die Quantenmechanik weder verstehen, noch an sie glauben.

Trotzdem spielt die QM eine wichtige Rolle. Die QM sagt voraus, dass man in bestimmten Situation explizite Widersprüche zu (R') finden sollte. Und wann immer wir diese Experimente durchführen, sind die Ergebnisse tatsächlich mit der QM verträglich und widersprechen (R').

Also: Die QM sagt uns, welche Experimente es sich lohnt durchzuführen. Die Ergebnisse sprechen dann aber für sich selbst.