(Web essay: www.zeh-hd.de  --  version Sept 12, 2000)

Was heißt: es gibt keine Zeit?

H. D. Zeh

Die Behauptung aus Kreisen der modernen Physik, daß es eigentlich gar keine Zeit gäbe, hat in letzter Zeit einiges Aufsehen erregt. Julian Barbours Buch "The End of Time" ist gerade zu einem Bestseller geworden, während der Deutschlandfunk schon im Jahre 1994 ein Feature mit dem Titel "Die Abschaffung der Zeit" zu diesem Thema brachte. Stephen Hawkings erfolgreiche "Kurze Geschichte der Zeit" ist im Vergleich dazu eine recht konventionelle Angelegenheit. Doch um es vorweg zu nehmen: der Zeit, wie sie sich uns "für alle praktischen Zwecke" darstellt, können wir wohl kaum entrinnen. Dagegen scheint diese neue Erkenntnis uns ein wenig mehr über die tiefen Geheimnisse unserer Welt verraten zu können.

Was ist gemeint? Bei Newton heißt es: "Die absolute Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer eigenen Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand." Auch wenn uns das plausibel vorkommen mag, war es historisch ein Rückschritt, denn eine begriffliche Abhängigkeit der Zeit von Bewegungsvorgängen (oder sonstigen regelmäßigen Veränderungen), die ihren rein relativen Charakter bedingen würde, wurde bereits in der Antike (vor allem von Aristoteles), aber auch von Newtons Zeitgenossen und Konkurrenten Leibniz, betont. Was soll hier das Adjektiv "gleichförmig" überhaupt bedeuten? Definiert man die Zeit durch Bewegungsvorgänge (wie es für quantitative Zwecke mit Hilfe von Uhren ohnehin geschieht), so sollten nur relative Bewegungen (also etwa der Vergleich einer Flugbahn mit der Bewegung eines Uhrzeigers -- aber auch mit der ungenauen "inneren Uhr" eines Beobachters) sinnvoll sein. Die Existenz vergleichbarer Bewegungsabläufe (also einer Gleichzeitigkeit verschiedener Ereignisse) rechtfertigt nur einen rein vergleichenden aber ansonsten willkürlichen gemeinsamen "Parameter" für alle zeitlichen Abläufe (Bahnen durch den Raum aller möglichen Zustände), aber nicht die ausgezeichnete Rolle einer "absoluten" Zeit.

Trotzdem ist Newtons Konzept außerordentlich erfolgreich. Wie kann es das, wenn es gar nicht sinnvoll sein soll? Sein Erfolg (und seine Berechtigung) besteht darin, daß eine bestimmte Wahl dieses Parameters (die dann mit Newtons "absoluter Zeit" identifiziert wird) die Bewegungsgleichungen einfach macht. Der Physiker weiß, daß jede nichtlineare Abweichung von Newtons Zeit auf komplizierte "Pseudokräfte" führt. Das erschien historisch als ein starker empirischer Hinweis auf die Existenz einer absoluten Zeit.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte Ernst Mach Zweifel an dieser Interpretation der Newtonschen Gesetze und schlug stattdessen vor, daß diese (insbesondere die träge Masse) nur relativ zur Materie des Gesamtuniversums definiert seien. Danach soll auch die Eigenschaft der Newtonschen Zeit, alle lokalen Bewegungsabläufe zu kontrollieren, erst durch eine globale Bewegung, etwa die Expansion des gesamten Universums, bestimmt sein. Einstein hat seine Allgemeine Relativitätstheorie unter dem Einfluß dieser Ideen entwickelt, jedoch beruht diese vor allem auf einer davon unabhängigen weiteren Erkenntnis: der Invarianz der Lichtgeschwindigkeit. Nur in Bezug auf diese Theorie hat sich der Name relativistisch eingebürgert, während man im Machschen oder Leibnizschen Sinne (also nichtrelativistisch) von "relational" sprechen kann. Eine "nichtrelativistisch relationale" Theorie wurde konsequent erst von Barbour und Bertotti im Jahre 1982 formuliert. Sie enthält also keine absolute Zeit, was Barbour als Zeitlosigkeit bezeichnet, führt aber näherungsweise auf Newtonsche Gesetze. Barbours Bezeichnung ist aber nur dann angebracht, wenn man Zeit ausschließlich als absolute Zeit im Newtonschen Sinne versteht (als eine unabhängig von aller Materie definierte Größe). Denn solange es eine "Bahn" des Universums durch dessen Zustandsraum gibt (eine vollständig definierte Historie), definieren deren Bahnpunkte (Zustände) auch diverse vergleichbare "Uhrenstände". Die praktische Rolle der Zeit bleibt also unverändert erhalten, solange dynamische Gesetze für die Relativbewegungen gelten.

Wie wir seit Heisenbergs Endeckung wissen, gibt es in der Quantentheorie nun aber gar keine Bahnen (also im Prinzip auch keine zeitlichen Folgen von Uhrzeigerstellungen) mehr. Die beobachteten Bahnen makroskopischer Objekte entstehen erst näherungsweise durch einen als Dekohärenz bekannten Prozeß unter dem Einfluß ihrer natürlichen Umgebung. Deswegen kann eine Theorie ohne absolute Zeit (wie die von Barbour und Bertotti) nach ihrer Quantisierung auch keinen "Zeitparameter" zur Charakterisierung von dynamischen Veränderungen mehr enthalten. In der Tat beschreibt die Grundgleichung der Quantengravitation, die sogenannte Wheeler-DeWitt-Gleichung (die über das bisher gesagte hinaus auch relativistisch ist), keine Zeitabhängigkeit. Diese gemeinsame Konsequenz der Abwesenheit einer absoluten Zeit und der Quantentheorie bedingt also eine viel weitergehende Zeitlosigkeit als in der Theorie von Barbour und Bertotti (wie ich bereits in meinen im Jahre 1984 publizierten Springer-Lecture-Notes über "Die Physik der Zeitrichtung" ausgeführt habe). Fast alle Wissenschaftler, die zur Entwicklung der Quantengravitation beigetragen haben, scheinen diesen Aspekt der Zeitlosigkeit (wie so vieles in der Quantentheorie) als "rein formal" aufgefaßt zu haben. Die von uns wahrgenommene Zeit als eindimensionale Folge läßt sich dann nur noch für spezielle Lösungen der Wheeler-DeWitt-Gleichung (und nur in einem ganz bestimmten Sinn) näherungsweise begründen. Dieses erstaunliche Ergebnis ist aber mit dem "Phänomen" der wahrgenommenen Zeit durchaus kompatibel.

Die (rigorose) Zeitlosigkeit ist also kein spezifisch relativistischer Aspekt im Einsteinschen Sinne. Vielmehr enthält die Spezielle Relativitätstheorie, wie jede Theorie mit vorgegebener Raumzeitgeometrie, noch immer ein in obigem Sinne "absolutes" (wenn auch wegabhängiges) Zeitkonzept. Ihre Raumzeitgeometrie bestimmt die dynamisch relevanten Eigenzeiten aller lokalen Objekte noch immer absolut ("ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand"). Allerdings ist nun der Gleichzeitigkeitsbegriff weitgehend willkürlich und nur auf "raumartige" Abstände im Sinne der Raumzeitgeometrie eingeschränkt. Trotzdem können noch dynamische Folgen von globalen Zuständen ("Zustandsbahnen" einschließlich der Zustände aller lokalen Uhren) durch eine solche "raumartige Foliation" der Raumzeit definiert werden. Sie lassen sich dann eindimensional (wie man es normalerweise von einer Zeit verlangt) parametrisieren. Bei einer Quantisierung nach bewährten Mustern erhält man dann Wellenfunktionen als globale Zustände in Abhängigkeit von einer solchen (beliebigen) Zeitkoordinate, einer verallgemeinerten Schrödinger-Gleichung gehorchend. Wegen der Willkür der Foliation entspricht die physikalische (durch die Geometrie noch absolut bestimmte) Zeit im Gegensatz zu diesem willkürlichen Zeitparameter nun aber einer vollen Funktion über dem Raum ("vielfingrige Zeit"). Sie schreitet an jedem Ort und in jeder vorgegebenen Richtung in der Raumzeit entsprechend der Raumzeitgeometrie und "ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand" fort.

Erst die Allgemeine Relativitätstheorie führt nun, ebenso wie jede andere Theorie ohne absolute Zeit, auf eine "Zwangsbedingung" fester (verschwindender) Gesamtenergie des Universums, H=0, so daß die "Einstein-Schrödinger-Gleichung" (die Wheeler-DeWitt-Gleichung) zeitunabhängig wird -- obwohl die klassischen Lösungen weiterhin "zeitabhängige" (parametrisierbare) Bahnen darstellen. Statt einer eindimensionalen Historie (Folge von Zuständen) des Universums erhält man also eine ausgedehnte, aber zeitunabhängige Wellenfunktion über seinem gesamten Zustandsraum, so daß man sagen kann, daß die Wellenfunktion die Rolle der Zeit übernimmt. Eine sogenannte Born-Oppenheimer-Näherung (gültig nur für bestimmte Variablen in bestimmten Bereichen) führt dann wenigstens dazu, daß dynamische Zusammenhänge innerhalb der Wellenfunktion auf Grund der Zwangsbedingung näherungsweise klassischen Bahnen folgen -- wie in der geometrischen Optik. Zur Rechtfertigung scheinbar separat existierender Bahnen (im Zustandsraum) bedarf es quantentheoretisch noch deren Dekohärenz, die jedoch eine "Umgebung" voraussetzen würde -- ein Unding für das ganze Universum.

Die fundamentale Annahme von globalen (simultanen) Zuständen scheint jedoch ein Relikt des nichtrelativistischen Zugangs von Barbour zu sein. Eine relativistische Theorie sollte das Barboursche globale "Jetzt" (durch willkürliche "Simultaneitäten" definiert) durch ein "Hier und Jetzt" ersetzen. Die Wheeler-DeWitt-Gleichung erlaubt in der Tat die Definition von geeigneten lokalen Dichtematrizen, die dann auch das Konzept der Dekohärenz rechtfertigen würden (s. Kiefers Kap. 4 im Buch von Giulini et al., 1996) -- offenbar ein Hinweis auf den in der Quantentheorie unumgänglichen lokalen Beobachter (mit seinem subjektiven Hier-und-Jetzt) als Interpretationsbezug.

Literatur:

1. J. Barbour, The End of Time (Weidenfeld & Nicolson, London, 1999)
2. C. Kiefer,  Der Zeitbegriff in der Quantengravitation, Philosophia naturalis 27, 43-65 (1990)
3. Über die Zeit in der Natur (download)
4. H. Genz, Wie die Zeit in die Welt kam (Hanser, 1996)
5. Sects. 5.4 und 6.2 meiner Direction of Time -- (s.a. deren Kap. 1 und den Epilog)

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