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Sachen, die ich auch nicht weiß

Dialog aus der Online-Sitzung heute

Student, zu dieser Lektion: "Die Lösung des Integrals durch Jacobi-Funktionen verstehe ich - aber wo kommt der Ansatz \begin{align}\label{eqn:time-integral}\tag{1} t(\phi) \simeq \int_0^\phi \frac{1}{\sqrt{E-U(\phi')}}\,\mathrm{d}\phi' \end{align} her?"

Dozent: "...!"

Bemerkungen dazu

Warum war ich überrascht? Nun, der Ausgangspunkt (\ref{eqn:time-integral}) ist ein ganz wichtiger Ansatz in der Mechanik. Die Lösung des Integrals für das mathematische Pendel durch Jacobi-Funktionen ist hingegen schon ein sehr spezielles Thema.

Offenbar ist das nicht klar genug rübergekommen. Zu meiner Verteidigung - zu Gl. (\ref{eqn:time-integral}) gab es eine eigene Lektion. Trotzdem werde ich versuchen, so etwas in Zukunft deutlicher zu machen.

Ich kann raten, was passiert ist: Das Integral habe ich vergleichsweise langsam und detailiert erklärt, weil diese Rechnung auch für mich nicht selbstverständlich ist. Tatsächlich habe ich die Details dieser Rechnung erstmals in diesem Sommer gelesen. (Sie können meinen eigenen Lernprozess im Blog verfolgen).

Sie könnten sich fragen, ob man wirklich in der zweiten Woche der ersten Theorie-Vorlesung Themen behandeln muss, die der Dozent selber vor einigen Monaten noch nicht drauf hatten.

Zumindest gibt es gute Gründe:

Die Theoretische Physik ist keine Anatomie-Vorlesung: Die Vermittlung von Faktenwissen ist nur eines der Ziele. Wichtiger ist es, dass Sie die Kompetenz erwerben, physikalische Prozesse durch Bewegungslgeichungen zu modellieren und aus den Gleichungen quantitative Aussagen abzuleiten. Je nach dem, wie schwierig die Gleichungen sind, kann das "Ableiten quantitativer Aussagen" sehr unterschiedliche Formen annehmen - siehe eine der ersten Lektionen. Die Lösung durch spezielle Funktionen ist eine solche Form, die Ihnen gelegentlich begegnen wird. Daher sollten Sie einmal gesehen haben, wie man damit umgeht, wenn das Computer-Algebra-System $\mathrm{EllipticF}[\,]$ ausspuckt. Die Lektion erfüllt also einen Zweck, selbst wenn Sie die Definition des elliptischen Integrals erster Art in einem Jahr nicht wie aus der Pistole geschossen wiederholen können.

Warum gerade an dieser Stelle? Wie in dieser Lektion besprochen, ist Gl. (\ref{eqn:time-integral}) ein ganz wichtiger Ansatz, weil er zeigt, dass alle konservativen Systeme mit einem FHG integrierbar sind (wie wir sehen werden, ist das für komplexere Systeme fast nie der Fall). In den Durchgängen der Vorlesung in den letzten Jahren war das natürlich auch Thema. Aber ich habe Ihren Vorgängerinnen und Vorgängern nie demonstriert, wie man (\ref{eqn:time-integral}) in der Praxis benutzt. Das liegt daran, dass es für die wichtigsten 1-D Systeme (harmonischer Oszillator, das effektive Potential im Kepler-Problem), andere Tricks gibt, mit denen man (\ref{eqn:time-integral}) umgehen kann. Die Erzählung war daher immer etwas anti-klimatisch: "Seht her - dieses wichtige Integral löst alle Probleme!! ...aber wir werden es nie benutzen". Um das zu ändern, gibt es diesmal das mathematische Pendel (und Aufgabe 2 auf dem 3. Zettel).

Was konnte Ihr Dozent noch nicht?

Weitere Themen der ersten vier Wochen, die ich selbst nicht parat hatte, bevor ich die TP1 zum ersten Mal gehalten habe:

  • Die Annahmen, unter denen gewöhnliche DGL'en eindeutige Lösungen haben (also wann genau Picard-Lindelöf gilt)
  • So ziemlich alle Details zur Geometrie von Ellipsen aus diesem Blog-Eintrag
  • Die genaue Definition des Runge-Lenz-Vektors, und wie man die Keplerschen Bahnen daraus ableitet

Umgekehrt - Was ist unverhandelbar wichtig?

Nun soll bitte keiner auf die Idee kommt, diesen Blog-Eintrag als Ausrede zu benutzen, nichts mehr lernen zu müssen. Diese Themen aus den ersten Wochen sind unverhandelbar wichtig:

  • Die Erhaltungsgrößen (Energie, Gesamtimpuls, Drehimpuls im Zentralfeld) und ihre Rolle bei der Lösung des Zweikörperproblems
  • Formulierung der Bewegungsgleichungen im Phasenraum
  • Numerische Integration