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Sachen, die ich auch nicht weiß

Dialog aus der Online-Sitzung heute

Student, zu dieser Lektion: "Die Lösung des Integrals durch Jacobi-Funktionen verstehe ich - aber wo kommt der Ansatz \begin{align}\label{eqn:time-integral}\tag{1} t(\phi) \simeq \int_0^\phi \frac{1}{\sqrt{E-U(\phi')}}\,\mathrm{d}\phi' \end{align} her?"

Dozent: "...!"

Bemerkungen dazu

Warum war ich überrascht? Nun, der Ausgangspunkt (\ref{eqn:time-integral}) ist ein ganz wichtiger Ansatz in der Mechanik. Die Lösung des Integrals für das mathematische Pendel durch Jacobi-Funktionen ist hingegen schon ein sehr spezielles Thema.

Offenbar ist das nicht klar genug rübergekommen. Zu meiner Verteidigung - zu Gl. (\ref{eqn:time-integral}) gab es eine eigene Lektion. Trotzdem werde ich versuchen, so etwas in Zukunft deutlicher zu machen.

Ich kann raten, was passiert ist: Das Integral habe ich vergleichsweise langsam und detailiert erklärt, weil diese Rechnung auch für mich nicht selbstverständlich ist. Tatsächlich habe ich die Details dieser Rechnung erstmals in diesem Sommer gelesen. (Sie können meinen eigenen Lernprozess im Blog verfolgen).

Sie könnten sich fragen, ob man wirklich in der zweiten Woche der ersten Theorie-Vorlesung Themen behandeln muss, die der Dozent selber vor einigen Monaten noch nicht drauf hatten.

Zumindest gibt es gute Gründe:

Die Theoretische Physik ist keine Anatomie-Vorlesung: Die Vermittlung von Faktenwissen ist nur eines der Ziele. Wichtiger ist es, dass Sie die Kompetenz erwerben, physikalische Prozesse durch Bewegungslgeichungen zu modellieren und aus den Gleichungen quantitative Aussagen abzuleiten. Je nach dem, wie schwierig die Gleichungen sind, kann das "Ableiten quantitativer Aussagen" sehr unterschiedliche Formen annehmen - siehe eine der ersten Lektionen. Die Lösung durch spezielle Funktionen ist eine solche Form, die Ihnen gelegentlich begegnen wird. Daher sollten Sie einmal gesehen haben, wie man damit umgeht, wenn das Computer-Algebra-System $\mathrm{EllipticF}[\,]$ ausspuckt. Die Lektion erfüllt also einen Zweck, selbst wenn Sie die Definition des elliptischen Integrals erster Art in einem Jahr nicht wie aus der Pistole geschossen wiederholen können.

Warum gerade an dieser Stelle? Wie in dieser Lektion besprochen, ist Gl. (\ref{eqn:time-integral}) ein ganz wichtiger Ansatz, weil er zeigt, dass alle konservativen Systeme mit einem FHG integrierbar sind (wie wir sehen werden, ist das für komplexere Systeme fast nie der Fall). In den Durchgängen der Vorlesung in den letzten Jahren war das natürlich auch Thema. Aber ich habe Ihren Vorgängerinnen und Vorgängern nie demonstriert, wie man (\ref{eqn:time-integral}) in der Praxis benutzt. Das liegt daran, dass es für die wichtigsten 1-D Systeme (harmonischer Oszillator, das effektive Potential im Kepler-Problem), andere Tricks gibt, mit denen man (\ref{eqn:time-integral}) umgehen kann. Die Erzählung war daher immer etwas anti-klimatisch: "Seht her - dieses wichtige Integral löst alle Probleme!! ...aber wir werden es nie benutzen". Um das zu ändern, gibt es diesmal das mathematische Pendel (und Aufgabe 2 auf dem 3. Zettel).

Was konnte Ihr Dozent noch nicht?

Weitere Themen der ersten vier Wochen, die ich selbst nicht parat hatte, bevor ich die TP1 zum ersten Mal gehalten habe:

  • Die Annahmen, unter denen gewöhnliche DGL'en eindeutige Lösungen haben (also wann genau Picard-Lindelöf gilt)
  • So ziemlich alle Details zur Geometrie von Ellipsen aus diesem Blog-Eintrag
  • Die genaue Definition des Runge-Lenz-Vektors, und wie man die Keplerschen Bahnen daraus ableitet

Umgekehrt - Was ist unverhandelbar wichtig?

Nun soll bitte keiner auf die Idee kommt, diesen Blog-Eintrag als Ausrede zu benutzen, nichts mehr lernen zu müssen. Diese Themen aus den ersten Wochen sind unverhandelbar wichtig:

  • Die Erhaltungsgrößen (Energie, Gesamtimpuls, Drehimpuls im Zentralfeld) und ihre Rolle bei der Lösung des Zweikörperproblems
  • Formulierung der Bewegungsgleichungen im Phasenraum
  • Numerische Integration

Mehr über Ellipsen als Ihnen lieb ist

In [1]:
import matplotlib.pyplot as plt
from IPython.display import set_matplotlib_formats
set_matplotlib_formats('svg') 
plt.rcParams['figure.figsize'] = (9,6)

Definition

Wähle zwei Brennpunkte und eine Halbachse $a$. Die damit verbundene Ellipse ist die Menger aller Punkte mit der Eigenschaft, dass die Summe der Abstände zu den beiden Brennpunkten den Wert $2a$ hat. Direkt aus der Definition ergibt sich die Gärtnerkonstruktion, mit der man eine Ellipse mit zwei Pflöcken in den Brennpunkten, einer Schnur der Länge $2a$ und einem Stock ins Blumenbeet malen kann:

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(Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 4.0)

Mit einem Kreis kann man nur wenige natürliche Punkte und Parameter assozieren (Mittelpunkt, Radius, Umfang). Die Geometrie von Ellipsen ist bereits wesentlich komplizierter. Hier die wichtigstens Definitionen (Warnung: diese können sich zwischen verschiedenen Autoren unterscheiden):

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$M$ Mittelpunkt
$F_L/F_R$ Linker / rechter Brennpunkt
$a/b$ große / kleine Halbachse
$e$ linear Exzentrizität
$\epsilon=\frac ea$ numerische Exzentrizität
$p$ Halbparameter
$H_L / H_R $ Hauptscheitel

Polardarstellung

Aus der Projektion des Ortsvektors auf den Runge-Lenz-Vektor ergibt sich die Formel \begin{align}\label{eqn:polar}\tag{1} r = \frac{p}{1+\epsilon \cos\phi} \end{align}

Behauptung: Für $\epsilon\in[01)$ liegen die Punkte mit Polarkoordinaten (\ref{eqn:polar}) auf einer Ellipse.

Beweis: Betrachte einen Punkt $P$ dessen Polarkoordinaten $\phi, r$ die Gl. (\ref{eqn:polar}) erfüllen. Definiere: \begin{align*} a&=\frac{p}{(1-\epsilon)^2} \label{eqn:a} \tag{2} \\ F_L&=(0,-2\epsilon a) \\ F_R&=(0,0) \\ r_L &= \overline{F_L P} \\ r_R &= \overline{F_R P}, \end{align*} so dass $r_R = r$.

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Zu zeigen ist, dass die definierende Relation $r_R + r_L = 2 a$ gilt.

Nutze dazu den Kosinussatz bezüglich des roten Dreiecks: \begin{align*} r^2_L =& 4 \epsilon^2 a^2 + r^2 - 4 \epsilon a r \cos(\pi-\phi). % \\ % =& % 4 \epsilon^2 a^2 + r^2 + 4 \epsilon a r \cos(\phi) \end{align*} In diesen Ausdruck setzen wir gleich die Beziehungen \begin{align*} r \epsilon \cos\phi &=p - r \\ p &= a(1-\epsilon)^2 \end{align*} ein, die aus den Formeln (\ref{eqn:polar}) und (\ref{eqn:a}) folgen. Mit etwas Umstellen: \begin{align*} r^2_L =& 4 \epsilon^2 a^2 + r^2 + 4 \epsilon r a \cos(\phi) \\ =& 4 \epsilon^2 a^2 + r^2 + 4 a(p-r) \\ =& r^2 - 4 ar + 4 a(\epsilon^2 a+ p) \\ =& r^2 - 4 ar + 4 a(\epsilon^2 a+ (1-\epsilon^2)a) \\ =& r^2 - 4 ar + 4 a^2 \\ =& (r-2a)^2\\ =& (2a-r_R)^2 \end{align*} Noch Wurzel ziehen, und wir sind fertig.

Eine geometrische Relationen

Die folgende Beziehungen wird für den Beweis des dritten Keplerschen Gesetzes benötigt.

Behauptung: Es gilt $b=\sqrt{pa}$. (Also die kleine Halbachse ist das geometrische Mittel aus der großen Halbachse und dem Halbparameter).

Beweis: Aus der Polardarstellung folgt für die $x$-Koordinaten der beiden Scheitelpunkte \begin{align*} x_L &= -\frac{p}{1-\epsilon^2}, \\ x_R &= \frac{p}{1+\epsilon^2}. \end{align*} Daher \begin{align*} a &= \frac12 \overline{H_L H_R} \\ &= \frac12(-x_L + x_R) \\ &= \frac{p}{1-\epsilon^2}. \end{align*}

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Aus dem Satz von Pythagoras folgt für das rote Dreieck \begin{align*} b &= \sqrt{a^2 - e^2} \\ &= a \sqrt{1-\epsilon^2}. \end{align*} Setzen Sie nun die erste in die zweite Relation ein.

Visualisierung

In [3]:
import numpy as np
import matplotlib.pyplot as plt

# Liste von n x- und y-Koordinaten, so dass (x[i], y[i]) auf einer Ellipse mit Exzentrizität e liegen
def ellipse(e,n):
    def xy(phi):
        r = 1/(1+e*np.cos(phi))
        return(r*np.array([np.cos(phi),np.sin(phi)]))
    
    return(np.array([xy(phi) for phi in np.linspace(0,2*np.pi,n)]).transpose())

# Visualisierung einer Ellipse mit Exzentrizität e
def visualize_ellipse(e):
    plt.gca().set_aspect('equal')
    plt.axis('off') 
    plt.plot(*ellipse(e,150))
    plt.plot(0,0,'ro')              # rechter Brennpunkt
    plt.plot(-e/(1-e**2),0,'ko')    # Mitte 
    plt.plot(-2*e/(1-e**2),0,'go')  # linker Brennpunkt
    plt.show()
In [4]:
visualize_ellipse(0)
visualize_ellipse(0.2) # Größte Exzentrizität eines Planetens (Merkur) im Sonnensystem
visualize_ellipse(0.8)
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Kleine Exzentrizität

Ellipsen mit kleiner Exzentrizität sind einem Kreis sehr nahe. Aus dem Bild oben: \begin{align*} b^2 + e^2 &= a^2 \\ \Rightarrow b &= a \sqrt{1-\epsilon^2} \\ & = a \left(1 - \frac{\epsilon^2}2 + O(\epsilon^4)\right) \end{align*} (Taylor um $\epsilon = 0$). Der Unterschied zwischen den Halbachsen hängt also nur in zweiter Ordnung von der numerischen Exzentrizität ab. Der Abstand $a\epsilon$ der Brennpunkte vom Mittelpunkt ist hingegen von erster Ordnung.

Für die Planeten des Sonnensystems sind die numerischen Exzentrizitäten relativ klein (den größten Wert hat der Merkur, mit $\epsilon\simeq 0,2$). Daher hat Kepler sein erstes Gesetz zunächst (fälschlich) als "die Planeten bewegen sich auf Kreisen, aber die Sonne ist nicht im Mittelpunkt" beschrieben. Oben sehen Sie eine Ellipse mit $\epsilon=0,2$. Ich kann sie visuell nicht von einem Kreis unterscheiden. Die (grünen) Brennpunkte liegen aber deutlich abseits des Mittelpunkts.

Die geschichtliche Entwicklung ist in [Arnold, Kapitel 2E] kurz erwähnt und wird in [Capderu, Handbook of Satellite Orbits, Kapitel 1.1.5] genauer besprochen.

In [66]:
import numpy as np
import matplotlib.pyplot as plt

def hyp(e,n,rmax,arm):
    def xy(phi):
        r = 1/(1+e*np.cos(phi))
        return(r*np.array([np.cos(phi),np.sin(phi)]))
    
    phi_max = np.arccos( ((1/rmax)-1)/e )
    
    if arm == 'left':
        return(np.array([xy(phi) for phi in np.linspace(-phi_max,phi_max,n)]).transpose())
    elif arm == 'right':
        return(np.array([xy(phi) for phi in np.linspace(np.pi-phi_max,np.pi,n)]).transpose())
    else:
        raise ValueError("arm parameter needs to be 'left' or 'right'")

def visualize_hyp(e):
    plt.gca().set_aspect('equal')
    plt.axis('off') 
    plt.plot(*hyp(e,150,2,'left'))
#    plt.plot(*hyp(e,150,2,'right'))
    plt.plot(0,0,'ro')              # linker Brennpunkt
    plt.plot(-e/(1-e**2),0,'ko')    # Mitte 
    plt.plot(-2*e/(1-e**2),0,'go')  # rechter Brennpunkt
    plt.show()
In [67]:
visualize_hyp(1.1)
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In [ ]:
 

Anomalie

In dem Video zum 2. Keplerschen Gesetz hatte ich angemerkt, dass ich nicht weiß, warum Winkel in der Himmelsmechanik als "Anomalien" bezeichnet werden ("wahre Anomalie, exzentrische Anomalie"). Ich hatte mehrere Kollegen gefragt, die sich hauptberuflich mit Sternen und Planeten beschäftigen - aber keiner wusste es genau.

Claus Kiefer konnte dann weiterhelfen.

Subject: Re: Anomalie Date: Wed, 4 Nov 2020 08:17:17 +0100 (MET) From: Claus Kiefer kiefer@thp.Uni-Koeln.DE To: David Gross david.gross@thp.Uni-Koeln.DE >

Lieber David,

in seinem Absolute or Relative Motion schreibt Julian Barbour auf S. 130 zur antiken (!) Astronomie:

From the Greek point of view the solar motion was anomalous in two respects. First, the fact that the sun moved relative to the stars at all was anomalous. This is probably the reason why the angle ... came to be called the anomaly (or true anomaly) ... The solar motion was then doubly anomalous in that the sun not only moved relative to the stars but did so in a nonuniform manner ...

Auf Seite 160 des gleichen Buchs heißt es weiter über diese Winkel:

...in the medieval and Renaissance literature they were also called inequalities, and Kepler calls the motion corresponding to the planet's own motion around the sun the first inequality and that corresponding to the earth's the second inequality.

Die Nomenklatur hat sich also im Laufe der Zeit sehr stark verändert.

Wer sich für die Geschichte und konzeptionelle Grundlage der Mechanik interessiert, dem sei das Buch sehr ans Herz gelegt. (Der britische Autor hat übrigens in den 60er Jahren in Köln promoviert).

Danke, Claus! :-)

Anmerkungen zur Definition der Jacobi-Funktion

Jacobische elliptische Funktion: Eine Warnung

Die Sinusfunktion kann einfach geometrisch definiert werden: $\sin \phi$ ist die $y$-Koordinate eines Punktes auf dem Einheitskreis, dessen Abstand von der $x$-Achse, gemessen in Bogenlänge, $\phi$ beträgt.

Man kann den Sinus auch sehr umständlich analytisch definieren, nämlich als Umkehrfunktion von \begin{align}\tag{1}\label{eqn:arcsinint} f(x):= \int_0^x \frac{1}{\sqrt{1-{x'}^2}}\,\mathrm{d}{x'}. \end{align} Die Definition ist korrekt, da \begin{align*} &\int_0^x \frac{1}{\sqrt{1-{x'}^2}}\,\mathrm{d}{x'} \\ =& \int_0^x \frac{\mathrm{d}\,\arcsin(x')}{\mathrm{d}x'} \,\mathrm{d}{x'} \\ =& \arcsin(x). \end{align*}

Der Literatur entnimmt man, dass die Jacobische elliptische Funktion eine "Verallgemeinerung der Sinusfunktion" ist und "etwas mit der Geometrie von Ellipsen zu tun hat". Sie wird oft definiert als Umkehrfunktion des elliptischen Integrals der ersten Art in Jacobiform \begin{align}\tag{2}\label{eqn:jacobiint} %F(x=\sin\phi|k^2) %F(\arcsin u|k^2) F(x|k^2) =\int_0^x \frac1{\sqrt{1-{x'}^2}}\frac{1}{\sqrt{1-k^2 {x'}^2}}\,\mathrm{d}{x'}. \end{align} Für $k=0$ erhalten wir die Funktion in (\ref{eqn:arcsinint}) - in diesem Sinn ist $F$ tatsächlich eine Verallgemeinerung des Arkussinus.

Für unser intuitives Verständnis von (\ref{eqn:jacobiint}) wäre es nun fantastisch, wenn wir -- wie im Falle der üblichen Trigonometrie -- die Geschichte auf einer einfachen geometrischen Definition aufbauen könnten. Im Vorfeld der Vorlesung habe ich versucht, einen solchen Zugang zu finden. Aber, leider, sehe ich nicht wie das geht. Der Zusammenhang von $F(x|k^2)$ mit der Geometrie der Ellipse ist indirekter als der Zusammenhang des Sinus mit der Geometrie des Kreises.

Man kommt nah dran (eine gute Quelle ist [Lawden: Elliptic Functions and Applications, Chapter 4]): Das elliptische Integral der zweiten Art in Legendre-Form \begin{align*} E(\phi|k^2) % =& \int_0^1 \sqrt{\frac{1-k^2 t^2}{1-t^2}} \,\mathrm{d}t \\ =& \int_0^\phi \sqrt{1-k^2 \sin^2(\phi')} \,\mathrm{d}\phi' \end{align*} beschreibt tatsächlich die Bogenlänge einer Ellipse.

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Und für den Parameter $k=2^{-1/4}$ kann man eine direkte geometrische Interpretation des unvollständigen elliptischen Integrals erster Art als Bogenlänge entlang einer Lemniskaten herstellen.

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(Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 4.0)

Jeweils nah dran an der geometrischen Definition die wir suchen... ...aber halt nicht ganz.

Übrigens scheint das Bedürfnis nach einer direkten geometrischen Beschreibung weit verbreitet zu sein. Vor Beginn der VL erzählte die englische Wikipedia-Seite eine solche Geschichte... ...nur leider war sie irgendwo zwischen sehr irreführend bis komplett falsch. Es gab sogar Blog-Einträge, die sich darüber beschwert haben. Ich habe versucht, den Eintrag etwas aufzuräumen. Mal sehen, ob die Änderung Bestand hat.

Lehre: Manchmal ist es leider kontraproduktiv, zu viel Energie in die Suche nach einer geometrischen Interpretation zu stecken.

Anmerkung zur Jacobi-Form vs Legendre-Form

Um den Zusammenhang zum Arkussinus herauszustreichen, haben wir oben die Jacobi-Form des elliptischen Integrals benutzt. In der Vorlesung wurde stattdessen die Legendre-Form \begin{align*} F_{Leg}(\phi|k^2) = F_{Jac}(x =\sin \phi |k^2) \end{align*} eingeführt. Mit dem Koordiantenwechsel $x=\sin\phi$ kann man (\ref{eqn:jacobiint}) auf die aus der VL bekannte Form bringen: \begin{align*} &\int_0^x \frac1{\sqrt{1-{x'}^2}}\frac1{\sqrt{1-k^2 {x'}^2}}\,\mathrm{d}{x'} \\ =&\int_0^{\phi} \frac1{\cos\phi'} \frac1{\sqrt{1-k^2 \sin^2\phi'}} \frac{\mathrm{d} \sin(\phi')}{\mathrm{d}\phi'}\,\mathrm{d}\phi' \\ =&\int_0^{\phi} \frac1{\sqrt{1-k^2 \sin^2\phi'}} \,\mathrm{d}\phi'. \end{align*}

In [ ]:
 

Mathematisches Pendel - Analytische Lösung

Wir betrachten ein Pendel mit Arm der Länge $l$ und Masse $m$.

Potentielle Energie: \begin{align*} U(\phi) &=mgl(1-\cos\phi) \\ &=2mgl \sin^2(\phi/2). \end{align*} Kinetische Energie: \begin{align*} T(\dot\phi)=\frac12 m l^2 \dot\phi^2. \end{align*} Also Gesamtenergie: \begin{align}\label{eqn:total} E &= U(\phi) + T(\dot\phi) \\ &= 2mgl \sin^2(\phi/2) +\frac12m l^2\dot\phi^2 \\ \Rightarrow \quad \dot\phi &= \sqrt{\frac{2}{ml^2}} \sqrt{E-2mgl\sin^2(\phi/2)} \end{align}

Mit den Definitionen \begin{align*} k &:= \sqrt{\frac{E}{2mgl}}, \\ \omega &:= \sqrt{\frac gl}, \end{align*} ergibt sich (Trennung der Variablen - vergl. VL zum Energiesatz) \begin{align*} t(\phi) %&=H(\phi) \\ &= \sqrt{\frac{ml^2}{2}} \int_0^\phi \frac1{\sqrt{E-2mgl\sin^2(\phi'/2)}} \,\mathrm{d}\phi' \\ &= \frac{1}{2\omega} \int_0^\phi \frac1{\sqrt{\frac{E}{2mgl}-\sin^2(\phi'/2)}} \,\mathrm{d}\phi' \\ &= \frac{1}{\omega k} \int_0^{\phi/2} \frac1{\sqrt{1-\sin^2(\phi')/k^2}} \,\mathrm{d}\phi' \\ &= \frac{1}{\omega k} F(\phi/2 \,|\, 1/k^2 ), \end{align*} wobei $F$ das unvollständige elliptische Integral der ersten Art ist (Wikipedia, Abramowitz & Stegun's Handbook of Mathematical Functions, SciPy). Die Größe $k^2$ ist die Energie in Einheiten der potentiellen Energie am oberen Punkt. Für den interessanten Fall der nicht durchdrehenden Lösungen ist $1/k^2$ also größer als 1. Viele Softwareimplementierungen - z.B. die in SciPy - sind nur für Parameter $<1$ definiert:

In [1]:
import scipy.special as spec

print("Kleiner Parameter:", spec.ellipkinc(0,.5), 
      "\nGroßer Parameter:", spec.ellipkinc(0,2))
Kleiner Parameter: 0.0 
Großer Parameter: nan

Mit Formel 17.4.15 in Abramowitz-Stegun kann man auf diesen Fall reduzieren. Es ergibt sich \begin{align*} \frac{1}{\omega k} F(\phi/2 \,|\, 1/k^2 ) = \frac{1}{\omega} F(\alpha \,|\, k^2 ), \end{align*} wobei der Winkel $\alpha$ deifniert ist durch \begin{align*} \sin\alpha &= \sin(\phi/2)/k \\ \Rightarrow\qquad \phi &= 2\arcsin\big( k \sin(\alpha) \big). \end{align*}

Die Umkehrfunktion des elliptischen Integrals ist die Amplitude \begin{align*} \mathrm{am}( u \,|\, k^2) = F^{-1}(u\,|\, k^2). \end{align*} Wichtiger ist der Sinus der Amplitude: \begin{align*} \mathrm{sn}(u\,|\,k^2) = \sin\,\mathrm{am}(u\,|\, k^2) \end{align*} ist die Jacobische Elliptische Funktion (Abramowitz-Stegun Kapitel 16).

Insgesamt also \begin{align*} \alpha(t) % &= H^{-1}(t) \\ &= \mathrm{am}(\omega t\,|\, k^2) \\ &= \arcsin( \mathrm{sn}(\omega t\,|\, k^2)) \end{align*} und endlich \begin{align*} \phi(t) = 2 \arcsin( k \, \mathrm{sn}(\omega t|k^2) ). \end{align*}

Das mathematische Pendel im Phasenraum

In [10]:
import matplotlib.pyplot as plt
from IPython.display import set_matplotlib_formats
set_matplotlib_formats('svg') 
plt.rcParams['figure.figsize'] = (9,6)

Phasenraumfluss

Bewegungsgleichung für das mathematische Pendel: \begin{align}\label{eqn:pendel}\tag{1} \ddot \phi(t) = - \sin \phi(t). \end{align} Wir führen eine Variable $v(t)$ für die erste Zeitableitung ein \begin{align*} v(t) = \dot \phi(t). \end{align*} Dann ist (\ref{eqn:pendel}) äquivalent zu diesem System aus zwei gekoppelten DGL'en erster Ordnung \begin{align}\tag{2} \dot \phi(t) &= v(t) \\ \dot v(t) &= - \sin \phi(t). \end{align}

In [11]:
import numpy as np
import matplotlib.pyplot as plt

# Erzeuge das Richtungsvektorfeld, dass durch die rechte Seite von (2) gegeben ist.

# Definitionsbereich: Ein Gitter von 15 x 15 Punkten im Bereich
# -2 pi ... 2 pi (für phi),
# -  pi ...   pi (für v).

phi, v = np.meshgrid(np.linspace(-2*np.pi, 2*np.pi, 15), np.linspace(np.pi,-np.pi, 15))

# Berechne das Vektorfeld wie in Formel (2)

F_phi = v
F_v   = -np.sin(phi)

# Matplotlib kann Vektorfelder mit einem "Quiver-Plot" visualisieren

plt.quiver(phi,v,F_phi,F_v);
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Integration nach dem Euler-Verfahren

In [16]:
tau = .0001         # Schrittweite
N   = int(12/tau)   # Anzahl der Schritte

# Arrays für integrierte Funktionswerte
phis = np.zeros(N) 
vs   = np.zeros(N)

# Anfangsbedingungen
phis[0] = 0
vs[0]   = 1.9 

# Euler-Integration
for i in range(1,N):
    phis[i] = phis[i-1] + tau * vs[i-1]    
    vs[i]   = vs[i-1]   + tau * (-np.sin(phis[i-1]))
In [18]:
ts=np.array([t*tau for t in range(0,N)])

plt.plot(ts,phis,label='$\phi(t)$')
plt.plot(ts,vs,label='$\dot\phi(t)$')

plt.legend(loc='best')
plt.xlabel('t')
plt.grid()
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In [ ]:
phi, v = np.meshgrid(np.linspace(-1*np.pi, 1*np.pi, 15), np.linspace(.8*np.pi,-.8*np.pi, 15))

F_phi = v
F_v   = -np.sin(phi)

plt.quiver(phi,v,F_phi,F_v);
plt.plot(phis,vs);
In [ ]:
# Pythons Matplotlib kann mit der streamplot-Funktion automatisch solche Flussidagramme erstellen

phi, v = np.meshgrid(np.linspace(-2*np.pi, 2*np.pi, 15), np.linspace(np.pi,-np.pi, 15))
F_phi = v
F_v   = -np.sin(phi)

plt.streamplot(phi,v,F_phi,F_v);

# Nehme noch das Potential hinzu
domain=np.linspace(-2*np.pi, 2*np.pi, 300) 
plt.plot(domain,1-np.cos(domain))

Analytische Lösung

In [25]:
import scipy.special as spec

spec.ellipkinc(0,1/2)
Out[25]:
0.0
In [26]:
k=0.5*vs[0]

plt.plot(ts,[ 2*np.arcsin(k*spec.ellipj(t,k**2)[0]) for t in ts],'g',label='Analytisch')

plt.plot(ts,phis,label='Euler')

plt.legend(loc='best')
plt.xlabel('t')
plt.grid()
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In [ ]:
 

Systeme mit einem Freiheitsgrad: Überblick

Zum Aufwärmen analysieren wir im Detail die Dynamik von Systemen mit einem Freiheitsgrad.

Ziele

Sie werden:

  • ...lernen, Bewegungsgleichungen im Phasenraum zu formulieren und qualitative Eigenschaften dynamischer Systeme am Phasenraumportrait abzulesen;
  • ...Bewegungsgleichungen numerisch lösen (mit nicht mehr als drei Zeilen Code, versprochen!)
  • ...den Begriff der Energie wiederholen und sehen, wie man mit diesem Konzept eindimensionale Systeme mittels Quadraturen lösen kann, und
  • ...Kontakt mit speziellen Funktionen machen.

Beispiel

Unser Hauptbeispiel ist das mathematische Pendel:

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ein Punktteilchen mit Masse $m$, das an einer starren Aufhängung der Länge $l$ befestigt ist. Wenn man es aus der unteren Ruhelage um den Winkel $\phi$ auslenkt, wirkt eine Rückstellkraft mit dem Betrag \begin{align*} F(\phi) = -mgl \sin(\phi) \end{align*} Für kleine Auslenkungen, kann man den Sinus um $0$ herum zur ersten Ordnung nach Taylor approximieren und erhält \begin{align*} F(\phi) \simeq -mgl \phi \qquad (\phi \ll 1). \end{align*} Dieses approximative Modell nennt man das harmonische Pendel.

(Beim physikalische Pendel hat das Gewicht endliche Ausdehnung und wird nicht als Punktmasse modelliert).

Zwangsbedingungen

Da der physikalische Raum drei Dimensionen hat, ist es erst mal nicht offensichtlich, dass Systeme mit nur einem Freiheitsgrad physikalisch sind. Wir werden später sehen, dass man Freiheitsgrade aus dem Modell eliminieren kann, wenn sie durch Zwangskräfte eingeschränkt sind. Im Fall des Pendels, z.B., kann man sich vorstellen, dass die Masse an einem stabilien Stab befestigt ist. Wenn man versucht, sie in Richtung Aufhängung zu bewegen, übt der Stab eine starke "Zwangskraft" in die Gegenrichtung aus. Die Details besprechen wir in der Lagrangemechanik.

Anwendungen

Die Resultate in diesem Kapitel haben verschiedene Anwendungen.

Im nächsten Kapitel - zum Zweikörperproblem - werden wir sehen, dass man z.B. die Bewegungsgleichungen von zwei Himmelskörpern auf ein eindimensionales Problem reduzieren kann. Damit kann man, z.B., die Rechnungen zur Periodendauer gebundener Lösungen können verwendet um die Periheldrehung des Merkur durch relativistische Korrekturen zum Newtonschen Gravitationsgesetz zu bestimmen. Dies war der erste, durchschlagende Erfolg der Allgemeinen Relativitätstheorie.

Viele der Begriff aus diesem Kapitel werden Ihnen in den ersten Wochen der Quantenmechanik-Vorlesung wieder begegnen. Die klassischen Wendepunkte von Teilchen im Potential sind dann nicht mehr so rigoros. Teilchen werden in der Quantenmechanik durch Wellenpakete beschrieben, die durch den klassisch verbotenen Bereich hindurchtunneln können. Hier eine Animation des Prozesses (erstellt in einer QM1-Vorlesung).

(Die lustigen Muster entstehen, wenn der noch einlaufende und der bereits relflektierte Teil der Wellenfunktion miteinander interferieren...)

Literatur

Die Themen dieses Kapitels werden diskutiert in Kapitel 1 von [Scheck] und Kapitel 2 von [Arnold] (vergl. Literaturliste auf Kursseite).

Willkommen

Als ich Physik studiert habe, war die Mechanikklausur mit Abstand meine schlechteste Prüfung. Nur knapp bin ich nicht durchgefallen. Ich wollte die tiefen Geheimnisse des Universums verstehen. Perioden von Pendeln haben mich da überhaupt nicht interessiert.

Das habe ich später bereut.

Damit Ihnen das nicht auch passiert, hier einige Gründe, warum die Mechanik interessant ist - von jemandem, der anfangs davon gar nicht überzeugt war.

Methoden

Wir werden Methoden kennenlernen, die für die Physik zentral sind. Z.B. werden die Bewegungsgleichungen anfangs in der Newtonschen Form präsentiert, dann aber -- in der analytischen Mechanik -- durch abstraktere Wirkungsprinzipien ausgedrückt. Als Student hat mich das nicht überzeugt. Die Umformulierung schien mir redundant. Das "Prinzip der minimalen Wirkung" wurde in einer fast mystizistischen Art behandelt, die mir suspekt war.

Es stellt sich aber heraus, dass das Wirkungsprinzip die effizienteste Art ist, fundamentale physikalische Theorien zu finden. Häufig ist zu Beginn der Theoriebildung nicht viel mehr über das System bekannt als seine Symmetrien. Wieder und wieder passiert es, dass die "einfachste, natürlichste" Wirkung die mit den Symmetrieen verträglich ist, die korrekte physikalische Theorie liefert. Ich glaube nicht, dass jemand versteht warum das Prinzip so gut funktioniert. Sicher aber ist: Wer die Lagrange-Formulierung der klassischen Mechanik nicht verstanden hat, wird z.B. die fantastische Eleganz der Einstein-Hilbert-Wirkung nicht verstehen können. (Sie finden die nicht elegant? Dann vergleichen Sie die Wirkung mal mit den Einsteinschen Feldgleichungen, die daraus folgen...)

Brücke zur Quantenmechanik

Wem die Quantenmechanik nicht interessiert, dem kann ich auch nicht helfen. Aber wenn Sie die QM verstehen wollen, führt an der analytischen Mechanik kein Weg vorbei. Die Formulierungen der QM, die der klassischen Beschreibung am nächsten kommen, sind mit der Hamiltonmechanik (kanonische Quantisierung) und der Lagrangemechanik (Pfadintegrale) verwandt. Also: Jetzt gut zuhören, nächstes Semester wird es dann ernst!

Geometrie

Das symmetrische Skalarprodukt $(x,y) = \sum_i x_i y_i$ definiert die Euklidische Geometrie, mit deren Regeln wir intuitiv vertraut sind. Es gibt aber auch ganz andere, abstraktere Geometrien. Bei der Analyse der Hamiltonmechanik fällt die sogenannte symplektische Geometrie vom Himmel. (Sie beruht auf einem antisymmetrischen inneren Produkt $[x,y]=-[y,x]$.) Symplektische Symmetrien tauchen immer wieder an unerwarteten Orten auf. In meinem eigenen Spezialgebiet - der Quanteninformationstheorie - beruht zum Beispiel die Theorie der Fehlerkorrektur von Quantencomputern auf symplektischen Methoden.

Viel Spass!

Hätte ich das mal vorher gewusst... ...Sie wissen es jetzt. Mehr kann ich nicht tun.

Viel Spass!